Das Problem der Roboterarme - Header

Ein Beitrag von Walter Graf, Smart Factory/Industry 4.0 Evangelist, Fujitsu Distinguished Engineer.

Roboter eröffnen Fertigungsunternehmen eine schier unglaubliche Menge verschiedener Möglichkeiten. Doch welche davon ist die Beste? Und wie lässt sie sich überhaupt ermitteln?

Roboter sind aus der Fertigungsindustrie nicht wegzudenken. Ihre Anzahl und Aufgaben steigen kontinuierlich. Rund 221.500 Industrie-Roboter waren 2020 bei deutschen Fertigungsunternehmen im Einsatz, das sind drei Prozent mehr als im Vorjahr. Damit rangiert Deutschland, bezogen auf die Roboterdichte, laut Automatica-Trendindex 2020 im weltweiten Vergleich auf Platz 3 – direkt hinter den Vorreitern Singapur und Südkorea. Einsatz finden die Roboter dabei vor allem im Rahmen komplexer Fertigungsprozesse, etwa in der Automobilproduktion. Die Vorteile liegen auf der Hand: Robotersysteme sind nicht nur sehr zuverlässig und entlasten die Produktionsmitarbeiter*innen, wenn es um repetitive oder körperlich schwere Arbeiten geht, sondern senken auch die allgemeinen Produktionskosten.

Die steigende Zahl von Robotern mit immer mehr Fähigkeiten bedeutet für Fertigungsunternehmen allerdings auch eine kaum mehr zu überschauende Komplexität. Diese ist mit herkömmlichen Methoden wie vereinfachten Modellen nicht mehr zu bewältigen. Denn je vielfältiger etwa die Bewegungen eines Roboterarms, desto schwieriger – ja fast unmöglich – ist es, einen möglichst effizienten und damit guten Bewegungsablauf für bestimmte Aufgaben festzulegen.

Im Kern geht es dabei um Folgendes: Um einen Bewegungsablauf zu optimieren, muss festgelegt werden, welcher Roboterarm welche Tätigkeit zu welchem Zeitpunkt ausführen soll. Dabei dürfen sich die Roboterarme nicht in die Quere kommen und behindern. Dieses Problem bezeichnen wir – in Analogie zum „Problem des Handlungsreisenden“ (Traveling Salesman Problem), welches stellvertretend für die Problemklasse der sogenannten kombinatorischen Optimierungsprobleme steht – als „Problem der Roboterarme“.

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Kombinatorische Optimierung – eine besonders gute Nadel im unendlichen großen Heuhaufen finden

Beim „Problem des Handlungsreisenden“ gilt es, die Reihenfolge für den Besuch mehrerer Orte so zu wählen, dass kein Ort mehr als einmal besucht wird und die gesamte Strecke möglichst kurz ist. Analog muss beim „Problem der Roboterarme“ aus einer fast unendlich großen Menge potenzieller Einzellösungen ein möglichst effizienter und zeitsparender Bewegungsablauf ermittelt werden. Weil es in beiden Fällen aber zu viele Möglichkeiten gibt, um alle zu testen, ist für die Lösung eine Heuristik in Form eines mathematischen Näherungsverfahrens erforderlich, zum Beispiel des sog. Simulated Annealings.

Selbst dafür müssen aber gleichzeitig abertausende verschiedene Möglichkeiten simuliert, analysiert und miteinander abgeglichen werden – und das in Sekundenschnelle. Herkömmliche Computersysteme sind dazu nicht in der Lage. Zwar wird das Annealing, in Form des Simulated Annealings, bereits seit vielen Jahren auf traditionellen Rechnerarchitekturen eingesetzt. Als wirklich effizient hat es sich dabei jedoch nicht erwiesen. So dauern Rechenoperationen dieser Art nicht nur ziemlich lange, sondern erfordern auch einen hohen Rechenaufwand. Effizientes Annealing könnte aus heutiger Perspektive nur das Quanten-Computing liefern. Aber warum ist das so?

Mehr als 0 und 1

Während herkömmliche Rechner mit Bits arbeiten, die nur zwischen 0 und 1 unterscheiden, können Quanten-Bits (Qubits) viele Zustände annehmen: 0 und 1 sowie einen beliebigen dazwischen. Außerdem können sie es auf gewisse Weise – anders als normale Computer – gleichzeitig tun, also mit allen Zuständen zwischen 0 und 1 zur selben Zeit arbeiten. Das versetzt sie in die Lage, weitaus mehr Möglichkeiten simultan zu berechnen als ein „normaler“ Computer.

Allerdings steckt die Entwicklung von Quantencomputern und damit auch von Quantum Annealern für die Lösung hochkomplexer kombinatorischer Optimierungsprobleme noch in den Kinderschuhen. So müssen sie beispielsweise konstant extrem nahe am absoluten Nullpunkt (-273,15 °C) und ohne weitere äußere Einflüsse betrieben werden. Auch laufen sie heute noch nicht annähernd stabil genug, um komplexe Probleme im breiten Industrieeinsatz zu berechnen.

Quanten-inspiriertes Annealing: Eine Brücke in die Zukunft

Einen Vorgeschmack auf das, was einmal kommen wird, geben wir von Fujitsu bereits heute mit der Digital-Annealing-Technologie. Sie kommt ohne die komplexen Rahmenbedingungen eines Quantum Annealers aus. Der ihr zugrundeliegende Chip, die Digital Annealing Unit (DAU), ist mit konventioneller, Silizium-basierter Halbleitertechnik gefertigt und lässt sich in herkömmliche IT-Infrastrukturen integrieren. Hier haben wir versucht, uns den Möglichkeiten des Quantum Annealers so gut wie möglich auf klassischem Weg zu nähern. Zum Beispiel arbeitet der Chip massiv parallel und kann so bis zu einem gewissen Grad die Eigenschaft der Qubits nachbilden. Es handelt sich also um eine Brückentechnologie, die sich der Leistung echter Quantum Annealer für diese konkrete Problemklasse sehr stark annähert bzw. sie im Moment sogar übertrifft. Dabei ist die mathematische Modellierung des Digital Annealers so gestaltet, dass sie später eins zu eins für Optimierungen auf Basis eines Quantum Annealers einsetzbar ist. So setzen wir unter anderem auf Schnittstellen (APIs), die bereits heute auch bei Quantum Annealern Anwendung finden.

Dank seines quanten-inspirierten, digitalen Schaltungsdesigns löst der Digital Annealer bereits heute komplexe kombinatorische Optimierungsprobleme schneller als jemals zuvor. Berechnungen, die bislang Stunden brauchten, lassen sich so in Sekundenschnelle unter Echtzeitbedingungen durchführen – auch in der Fertigungsindustrie. Ein Beispiel ist die Schweißnahtversiegelung im Zuge der Lackierung, die mit rund 40 Prozent der Gesamtherstellungskosten einen der kostenintensiveren Schritte der Fahrzeugproduktion darstellt und ein entsprechend hohes Optimierungspotenzial aufweist.

Optimierte Roboterarmbewegungen bei BMW

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Obwohl hochautomatisiert, war das Versiegeln von Fugen, die während der Produktion an der Karosserie und im Unterbodenbereich entstehen, bei der BMW AG bisher ein sehr zeitaufwendiger Prozess in der Lackierstraße. So müssen mehrere Roboterarme abhängig vom Fahrzeugmodell unterschiedlich um die Karosserie positioniert werden. Hinzu kommen verschieden große Nähte und Düsen. Zudem gilt es, eine Kollision der Roboter in den verschiedenen Set-ups zu verhindern.

Um unter diesen Randbedingungen den schnellstmöglichen Bewegungsablauf für jedes Fahrzeugmodell und jeden Roboterarm zu finden, muss demnach eine enorme Menge von verschiedenen Parametern in die Analyse mit einbezogen werden. Für die Lösung dieser komplexen kombinatorischen Herausforderung setzte BMW im Rahmen eines gemeinsamen Projekts auf unsere Quantum-Inspired Optimization Services, die auf der Digital Annealing-Technologie basieren. So konnten die Bewegungen der Roboterarme bei der Nahtversiegelung im Lackierprozess um 40 Prozent gesenkt und damit auch die Taktzeiten erhöht werden. Das spart wertvolle Zeit im Produktionsprozess. Ebenso beeindruckend ist die Schnelligkeit, mit der die effizienten Bewegungsabläufe errechnet wurden. So benötigte der Digital Annealer nur 0,5 statt 8.000 Sekunden, wie sie ein Rechner mit herkömmlicher Chiparchitektur gebraucht hätte. Das entspricht einer Beschleunigung um den Faktor 17.000.

Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten

Das ist aber nur einer von vielen Einsatzbereichen der Digital-Annealing-Technologie in der Fertigungsindustrie. So lässt sich mithilfe des quanten-inspirierten, digitalen Schaltungsdesigns u. a. die Routenführung im Lager optimieren. In unserer Produktionsstätte Fujitsu IT Products Limited konnten so etwa die Wegstrecken beim Kommissionieren von Teilen um bis zu 45 Prozent gesenkt werden.

Mit dem Digital Annealer lassen sich die oftmals zeitaufwendigen Lösungen komplexer kombinatorische Optimierungsprobleme jeglicher Art automatisieren und beschleunigen. Das Ergebnis ist dabei nicht nur wesentlich schneller verfügbar, sondern gegenüber manuellen Verfahren auch unabhängig vom Bearbeitenden und dessen Erfahrung.

Optimierung-as-a-Service

Da Quanten-inspiriertes Annealing spezielles Know-how erfordert, bedarf es in der Regel Unterstützung durch externe Expert*innen. Problemlösungen und die damit verknüpften Fragestellungen müssen zunächst in mathematische Formeln „übersetzt“ werden, damit sie der Digital Annealer berechnen kann. Damit Sie sich auf Ihr Kerngeschäft und den jeweiligen Business Case konzentrieren können, erfolgt der Einstieg in die neue Technologie „as-a-Service“ über die Cloud. Im Rahmen unserer FUJITSU Quantum-Inspired Optimization Services – kurz QIOS – stehen Ihnen die Vorteile des Digital Annealers zur Verfügung. Um die mathematische Modellierung und die Integration in Ihr System kümmern sich unsere Experten*innen.

Erfahren Sie mehr über den Einsatz des Digital Annealers in der Fertigungsindustrie und die Möglichkeiten der FUJITSU Quantum-Inspired Optimization Services.