Vom Arbeiterkind zur IT-Führungskraft: Interview mit Dr. Nicole Günzing

Vor kurzem haben wir hier in Fujitsu Aktuell eine kleine Interviewserie gestartet, in der wir Ihnen ein paar unserer Mitarbeiter vorstellen. Den Anfang machte Dr. Christina Eleftheriadou, die uns einen wichtigen Karrieretipp mitgab: Vorbilder können sehr hilfreich sein.

Im zweiten Teil der Serie sprechen wir heute mit Dr. Nicole Günzing, Fachbereichsleiterin (SAP AM 3) bei Fujitsu, darüber, welche Herausforderungen Arbeit im virtuellen Kontext für eine Führungskraft mit sich bringt – und wie ihr ganz persönlicher Weg zu ihrem jetzigen Job aussah. Auch sie haben wir nach einem wichtigen Tipp gefragt, den sie allen Menschen für ihren Karriereweg mitgeben möchte. Ihre Antwort war eindeutig: „Du bist gut, so wie du bist! Trau Dich!“

Hallo Nicole, schön, dass Du heute Zeit für ein Gespräch hast. Wie geht es Dir in der aktuellen Situation?

Hallo Doris – ja, freut mich auch. Mir geht es gut, danke! Die aktuelle Situation stellt uns alle vor Herausforderungen, beruflich wie privat. Spannende Zeiten, in denen wir viel lernen können.

Spannende Zeiten und Lernen – das klingt interessant. Welche Herausforderungen stellen sich Dir in beruflicher Hinsicht?

Zum Glück hat sich an meinem beruflichen Alltag nicht allzu viel verändert. Seit eh und je arbeiten mein Team und ich im virtuellen Kontext, über verschiedene Fujitsu Standorte und Home Offices verteilt. Die einzige Änderung ist, dass wir nun gar nicht ins Büro gehen können und unsere persönlichen Treffen virtuell stattfinden lassen, uns also nur via Webcam zu Gesicht bekommen. Das bedeutet dann für mich als Führungskraft schon eine kleine Veränderung. Ich möchte noch mehr Zeit für den persönlichen Austausch einplanen.

Wenn wir grad schon bei dem Thema sind: Was macht für Dich gute Führung aus?

Führung bedeutet für mich, gute Rahmenbedingungen zu schaffen und Menschen und Themen vernünftig miteinander zu verbinden. In diesem Sinne verstehe ich Führung als Zusammenführung.

Darüber hinaus macht gute Führung für mich aus, dass ich Menschen befähige, sie unterstütze und in ihrer individuellen Entwicklung fördere. Voraussetzung dafür ist Vertrauen. Diese Vertrauensbasis muss aktiv geschaffen werden. Das bedeutet: Augen und Ohren auf – und einen regelmäßigen Austausch. Man muss zuhören. Wer hat welche Ideen, Interessen, Schwerpunkte? Dann geht es darum, Menschen und Aufgaben so zusammenbringen, dass jede(r) ihr/sein Potential ausschöpfen kann.

Braucht es da vielleicht mehr Offenheit gegenüber dem Thema „Potential“, auch bei der Einstellung von neuen Mitarbeitenden?

Meiner Ansicht nach schon. Aber auch da glaube ich, dass es oft die Führungskräfte in der Hand haben, wie es gemacht wird. Meine Erfahrung ist, dass oft insgesamt mehr Offenheit und Mut und weniger nur der Blick auf den Lebenslauf hilfreich ist.

Wir sollten mehr auf die Menschen achten und hinterfragen, wer was möchte, wo Interessen und Beweggründe liegen. Es gibt einfach Leute, die haben den „Probleme lösen und anpacken“-Fokus und finden sich in die Themen ein. Andere verstecken sich hinter sehr viel Theorie.

Wusstest Du schon früh, dass Du Führungskraft werden willst?

Nein, gar nicht. Woher sollte ich das wissen? Der Wunsch hat sich in den letzten Jahren entwickelt: Verantwortung nicht nur für mich und meine Aufgaben übernehmen, sondern auch für ein Team von Menschen.

Was ich allerdings schon früh wusste war, dass ich es anders machen möchte als meine Eltern. Ich komme aus einer klassischen Arbeiterfamilie mit tradiertem Frauenbild. Was für meine Eltern wunderbar funktioniert hat, wollte ich für mich in dieser Form nicht fortsetzen. Ich wollte es anders machen, anders leben. Da spielten Themen wir Lernen, Perspektiven erweitern, die Welt erkunden, aber auch finanzielle Unabhängigkeit eine große Rolle. Und ich bin schon immer eher gegen den Strom als mit ihm geschwommen. Ich wollte Studieren. Mein Opa meinte darauf hin: „Du bist doch ’ne Frau. Warum willst Du studieren? Du heiratest doch eh.“ Versteh mich nicht falsch, keiner aus meiner Familie wollte mich davon abhalten, zu studieren und alle haben mich immer unterstützt. Aber verstanden haben sie meinen Wunsch nicht, glaube ich.

Oje – und dann kommst Du und wählst noch nicht mal einen Bereich der stereotyp / klassischerweise eher Frauen zugeordnet wird…

Ja, richtig – Informatik, Controlling und Produktionstheorie waren nicht wirklich die Frauendomänen in meinem Studiengang, aber die Themen, die ich persönlich spannend fand.

Und wie ist es dann so gekommen, dass Du jetzt bei Fujitsu bist? Was hast Du studiert?

Durch die Schule bin ich mit Ach und Krach gekommen. Danach habe ich eine Ausbildung zur Industriekauffrau gemacht. Weil der Schulabschluss war, wie er war, konnte ich mir auch nicht aussuchen, wo ich studieren will. Ich hab mich dann in Wuppertal für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben, das war damals ohne NC. Meine Matheprüfung im Vordiplom hab ich auch erst beim dritten Anlauf geschafft, aber dann ging der Knopf auf und mit meinem Abschluss war ich dann unter den Besten. Ich durfte sogar die Abschlussrede halten. Letzteres allerdings auch deshalb, weil sich sonst niemand traute.

Die eigene Komfortzone zu verlassen, scheint Dir zu liegen, oder?

 Nun ja, ich versuche stets, nicht allzu sehr darin zu verharren. Raus aus der sicheren Komfortzone ist der beste Weg um „weiter zu kommen“, Neues zu erlernen und Erfahrungen zu sammeln. Es lohnt sich, zumindest nach meiner Erfahrung, mutig zu sein und das eigene Leben zu leben. Und nie, wirklich nie, sollte man sich einreden lassen, dass man etwas nicht kann oder machen sollte.

Ich war im Studium über AIESEC ein Semester zum Auslandspraktikum in Pune, Indien. Ich, die vorher kaum gereist war, das haben sich meine Eltern einfach nicht leisten können. Und dann gleich Indien, allein als junge Frau. Es war irgendwie ein Sehnsuchtsland und ein riesiges Abenteuer. Als ich im Flugzeug saß, hatte ich schon ziemlich Bammel, was mich da erwarten wird. Aber andererseits war ich wirklich gespannt auf neue Erfahrungen. Und es war toll. Ich habe dort in einem Mercedes-Autohaus gearbeitet und durfte unter anderem die Einführung des Maybach miterleben. Das war schon ein echtes Erlebnis. Und über den eigenen Schatten gesprungen zu sein, sozusagen die Komfortzone verlassen zu haben, das hat sich gelohnt.

Wow, das kann ich mir vorstellen. Und wie ging es nach dem Studium weiter?

Ich hatte eine Diplomstelle bei T-Systems und habe dann auch noch durch deren Stipendienprogramm die Chance auf eine Promotion bekommen. Die habe ich genutzt, auch wenn es eine harte Zeit war und mit 10 Jahren für meinen Geschmack etwas zu lang gedauert hat. Aber da hatte ich einfach Pech. Mein Doktorvater starb, kurz nachdem ich meine Erstfassung eingereicht hatte. Erst mit Doktorvater Nummer drei konnte ich meine Doktorarbeit abschließen. Dreimal umgeschrieben und angepasst und das alles neben dem laufenden Vollzeitjob, zu Hause ein schwerkranker Vater und eine kranke Mutter. Da hieß es: Augen zu und durch, irgendwie durchhalten und weitermachen.

Du hast jetzt schon einiges angesprochen, aber gibt es noch etwas, das Du anderen mit auf den Karriereweg geben möchtest?

Ja, da gibt es schon etwas. Du bist gut, so wie du bist! Trau Dich!

Ich habe lange Zeit gedacht, ich bin noch nicht gut genug – gut genug ausgebildet, zertifiziert, erfahren etc. Ich hatte immer den Anspruch, alles von Beginn an perfekt zu können und zu machen. Ich habe meine Schwächen anstelle meiner Stärken betrachtet. Das ist nicht hilfreich. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das für mich erkannt habe und mich dann auch davon lösen konnte. Am Erkennen scheitert es ja oft nicht, aber am sich lösen… Aber jetzt weiß ich: Loslaufen kann man immer, alles andere ergibt sich dann von selbst. Einfach machen, nicht zu viel grübeln! „Was du wissen musst, um es zu tun, lernst du, indem du es tust“.